Die strenge Methodik, deren Thomas Struth sich bedient, befreit ihn von der Notwendigkeit, „Blickwinkel“ zu suchen, kompositorische Entscheidungen zu treffen oder in sonst einer Weise der Aufnahme eine persönliche, auktoriale Prägung zu geben. Mit Roland Barthes könnte man vom „Nullgrad der Photographie“ sprechen:
Die Strassenansichten werden in möglichst neutraler Weise registriert. Auf diese Weise legt Struth eine Art Archiv urbaner Ansichten an, in dem die einzelnen Belege dafür vorbereitet sind, miteinender verglichen zu werden. In der Nachfolge der Bechers entscheidet Thomas Struth sich für eine Photographie als Faktographie, die alle piktoralen Interessen ausschliesst.
Die Strassenphotos werden zur „Entzifferung“ angeboten wie eine Hieroglyphenschrift: Zu lesen sind die Strukturen, die das Leben in den Städten prägen, wie sie auch die Strukturen sind, in denen städtisches Leben sich niedergeschlagen hat und gewissermassen petrifiziert ist. Struth ist an den Strassenphotos interessiert als Medium für die Untersuchung gesellschaftlicher Zusammenhänge. Wenn er darauf achtet, dass keine Menschen in den Bildern erscheinen, handelt es sich dabei um eine Methode „heilsamer Entfremdung“ (Benjamin): Wo es für den Betrachter keine Möglichkeit der Identifizierung mit abgebildeten Personen gibt, gibt es auch keine Ablenkung von der Aufgabe einer nüchternen Bestandesaufnahme und rationaler Analyse. Ausgeschlossen ist aber auch jede Verführung zum voyeuristischen Blick auf das Leid in den städtischen Strukturen.
Jahre nach Entstehen der Strassenphotos hat Thomas Struth begonnen, auch Porträts zu machen, von Familien und von Einzelpersonen. Wieder isoliert, hat er nun die Personen dokumentiert, die von den Strassenphotos ausgeschlossen sind. Interessanterweise hat er auch einige Bilder von Menschen in der Strasse gemacht, aber nur in Japan und China. Die erste dieser Arbeiten entstand 1986 in Shinju-ku, Tokio, und die beiden Farbphotos in der Sammlung sind neuere Beispiele für belebte Strassen. Es ist schwer zu sagen, was es in Asien ermöglicht, Photos zu machen, die in Europa nicht gemacht werden können. Mag sein, dass es die Fremdheit jener anderen Kulturen ist, die einen distanzierten Blick zulässt, die Verlockung zur Identifikation nicht entstehen lässt. Gerade bei dem Bild aus Japan jedenfalls ist festzustellen, dass die Menschen nicht als Individuen zu sehen sind, sondern selbst wie Zeichen in einem „Reich der Zeichen“ (Roland Barthes). U.L.