Der Künstler aus Guangzhou (Kanton) gehört zur „Arbeitsgruppe Grossschwanzelefant“, die ein Produkt des explosionsartigen Wirtschaftsaufschwungs, der Modernisierung und Urbanisierung Südchinas in den 90er Jahren darstellt. Das nahe Hongkong gelegene Guangzhou war eine der ersten Städte, die sich gegen aussen öffneten, und beweist seitdem eine ökonomisch und urbanistisch beinahe erschreckende Dynamik.
Lin Yilin, Chen Shaoxiong, Liang Juhui und Xu Tan wollten mit ihren individuell geschaffenen und in der Gruppe ausgestellten Werken einen neuen Raum inmitten der drastischen Veränderungen dieser neuen „Globalstadt“ eröffnen. Die rasante Verstädterung schlägt sich im Alltag durch neue Lebenszeichen nieder: Geschwindigkeit, Farben, Kunstlicht, Werbung und Lärm. Die 1997/98 entstandenen Fotoarbeiten Streets von Chen Shaoxiong richten das Augenmerk auf die grundlegenden Veränderungen der menschlichen Sichtweise in der neuen grossstädtischen Umgebung. Die sich tagtäglich rastlos verändernden Strassenbilder und Skylines von Guangzhou hält der Künstler durch unzählige Fotos fest: Schnappschüsse von beliebigen Strassenszenen, Fahrzeugen, Passanten, Werbereklamen und Strassenmobiliar.
In monatelanger Fleissarbeit schneidet er Hunderte von Personen und Requisiten aus und stellt diese Versatzstücke zu einer neuen Szene zusammen. Es entsteht ein schier unendliches, anonymes, metropolitanes Schauspiel. Die Szenen sind aber eingefroren, alles ist miniaturisiert, flächig, kulissenhaft. Chen Shaoxiong konfrontiert das unentwegt pulsierende Tempo der Grossstadt mit dem absoluten Stillstand, die Wirklichkeit mit ihrem Modell. Guangzhou wird zerlegbar und transportierfähig – und entgleitet somit endgültig der Überblickbar- und Dominierbarkeit. B.F.