Diejenigen von uns, die sehen können, sind auf die Sehkraft angewiesen, um sich in der Welt zu orientieren und ihr einen Sinn zu geben. Sehen ist Wahrheit. Die Wahrheit wird oft kontrolliert durch das, was man gesehen hat, und dadurch, ob eine andere Person es bestätigen kann. Erst dies macht es zu einer Tatsache. Der Zentrismus des Auges ist nicht nur eine Domäne der visuellen/zeitgenössischen Kunst, wo Bilder geschaffen werden, um im Raum betrachtet zu werden. Auch die Literatur in ihrer erweiterten Form basiert auf dem Sichtbaren: Eine erzählte Geschichte hängt von der Fähigkeit ab, die Narration des Erzählers zu visualisieren. Die Wissenschaften benutzen wiederum Objektiv-Technologien, um ihre Behauptungen zu belegen. So sammeln Astrophysiker mit Hilfe von Teleskopen Daten und werten diese aus, um über Welten zu spekulieren, von denen wir nur wenig wissen. Die westliche Medizin ist keine Ausnahme. Als Patient:in wird man oft aufgefordert, ein Bild von seinen Gefühlen zu zeichnen, an welchem die Ärztin oder der Arzt sich im weiteren Verlauf der Untersuchung orientiert. Alles, was außerhalb der Matrix dieser Validierung liegt, fällt plakativ gesagt in den Bereich des Esoterischen, Unwissenschaftlichen und Primitiven.
Retreat into Darkness. Towards a Phenomenology of the Unknown (KHB), 2017
Die erste Einzelausstellung von Ivana Franke in der Schweiz bietet einen Raum, in dem wir unsere Sehgewohnheiten und unser Dasein in der Welt neu kalibrieren können, welche oft andere Sichtweisen ausschließen. Mit ihren ortspezifischen Werken hinterfragt Ivana Franke die Schwellen unserer Wahrnehmung, indem sie eine Verbindung zwischen unserem Bewusstsein und der Umgebung schafft. Ihr multi-disziplinäres Werk stützt sich auf Neurowissenschaft, Mathematik, Optik und Architektur und verweist auf ein umfassendes Verständnis künstlerischer Praktiken und deren Relevanz für andere Disziplinen, sowie auf die daraus resultierende Verschränkung. In der Ausstellung Twilight. Neither perception nor non-perception stellt zeigt sie immersive Installationen aus ihrer Darkness-Serie, worunter auch die Installation Retreat into Darkness. Towards a Phenomenology of the Unknown (KHB), 2017, fällt.
Die Arbeit wie auch die Ausstellung werfen drängende Fragen auf: Können wir nur das sehen, was wir kennen? Was könnte uns von unserem bequemen, vordefinierten Blickwinkel abbringen und unseren Blick auf die Welt erweitern?[1] Und: Können wir die Welt möglicherweise neu lesen, wenn wir unsere Gewohnheiten und Vorurteile für einen Moment ausser Kraft setzen?
Text von Kabelo Malatsie (Originalsprache English, Übersetzung: Theresa Patzschke)
[1] Aus Elena Agudios Text Retreat into Darkness. Towards a Phenomenology of the Unknown. On Disorientation, Epistemological Rupture, and Non-Knowledge in Ivana Frankes Publikation Retreat into Darkness. Towards a Phenomenology of the Unknown