Rémy Zaugg (1943 - 2005, Schweiz)

Drei grosse Leuchtschriften VOIR MORT stellten Rémy Zauggs Beitrag zur internationalen Ausstellung Tabula rasa (1991) im Stadtraum Biels dar. Eine davon präsentierte er zum ersten Mal in einem Innenraum anlässlich seiner Ausstellung Über den Tod in der Kunsthalle Bern (2000). Sechs Wörter – sechs Adjektive – sind auf dem mächtigen Hochformat auszumachen: „müde“, „erloschen“, „abgefärbt“, „tot“, „eintönig“, „vergangen“. Sie bilden ein geschlossenes semantisches Feld, da sie allesamt Mängel bezeichnen.

VOIR MORT besteht aus zwei Wörtern, die, isoliert gelesen, keinerlei Probleme aufwerfen: Infinitiv des Verbs ‚sehen‘ einerseits, Adjektiv ‚tot‘ oder artikelloses Substantiv ‚Tod‘ andererseits. MORT steht so knapp unter VOIR, dass man die beiden Begriffe unweigerlich miteinander in Verbindung bringt. Beim Verknüpfen der beiden einfachen Begriffe tauchen aber Fragen auf. Grammatikalisch gesehen ist MORT wohl ein das ‚Sehen‘ qualifizierendes Adverb, doch was könnte „tot sehen“ wohl bedeuten? Warum dieser eigenartige Infinitiv? Wer sieht tot? Warum sieht jemand tot? Vor allem irritiert aber die Gegenüberstellung zweier gegensätzlicher Begriffe: der aktive, aber auf keine bestimmte Person oder Zeit festgelegte, unbegrenzte Modus des Vorgangs ‚sehen‘ vs. die passive, endliche, definitiv abgeschlossene Qualität ebendieses Vorgangs. Das Unbestimmte des Infinitivs und die keine Lösung zulassende Antithese machen die vermeintlich so lapidare Aussage zu einem Rätsel. Das lesende oder wahrnehmende Subjekt ist gezwungen, sich zu determinieren, selber Sinn zu konstituieren. Die Wahl des Infinitivs ist absolut treffend, besitzt dieser Modus doch eine besondere Offenheit der Beziehungs-möglichkeiten.

VOIR MORT zwingt uns, aktiv Stellung zu nehmen. Die Endgültigkeit des Erscheinungsbildes der beiden Zeilen in Univers-Kapitalen – ihre Zentrierung hat zur Folge, dass man den Text als etwas Definitives, Unverrückbares wahrnimmt – steht jedoch in krassem Gegensatz zur Unbestimmtheit der Textstruktur. VOIR MORT funktioniert auf allen Ebenen dialektisch. Die Furcht vor dem Tod und die Lust am Sehen/Erkennen gelten als die wichtigsten Triebfedern menschlichen Handels und Denkens, sie sind der Ursprung menschlicher Kultur. Die elementare Aussage VOIR MORT in Leuchtschrift macht gleichzeitig das Sehen und dessen Grenzen (= den Tod) sichtbar.

Fatigué weist auf fehlende Vitalität hin, éteint ist etwas, das kaum mehr reagieren kann und déteint bedeutet Farbverlust. Mort ist, was nicht mehr lebt und passé, was nicht mehr ist. Morne markiert die Abweichung von der „normalen“ Heiterkeit. Die offenkundig affirmative formale Struktur der eingemitteten Versalien sowie die alliterativen Verdoppelungen von éteint/déteint und mort/morne wenden sich allerdings gegen die semantische Negativität der sechs Wörter. Mangel durch Malerei und Sprache auf diese Weise auszudrücken ist eine betont affirmative Stellungnahme. Zaugg versucht, einem verneinten Objekt Präsenz zu verleihen – und zwar die Präsenz, die es verlangt – keine bunte, glanzvolle, sondern trotz des grossen Formats der Tafel eine fahle Erscheinung: warme graue Schrift auf hellgrau-beigefarbigem Grund. Der Inhalt stimmt mit der Erscheinung überein. Beschreibt sich das Bild selber? Ist diese Arbeit Zauggs strikte selbstreferenziell? Die Wahl der Wörter lässt darauf schliessen, können doch alle (bis auf mort) im Kontext der Farben verwendet werden.

Das Bild besitzt aber auch die Funktion eines Spiegels. Gesamthaft bezeichnen alle sich auf ihm niederschlagenden Wörter eine Abweichung von einer Norm, die durch die entsprechenden Antonyme charakterisiert ist: Sie stehen in Opposition zu Leben, Farbigkeit, Glanz, Frische und Stabilität und bezeichnen somit Symptome eines kranken Körpers. In den sechs Wörtern erkennt sich das wahrnehmende Subjekt mit all seinen Mängeln. Zaugg gibt ihm die Möglichkeit, seine limitierten Wahrnehmungsfähigkeiten mit einem „kranken“ Objekt zu konfrontieren. In der Kunsthalle, in einer Ausstellung mit dem Titel Über den Tod, erprobt der Künstler modellhaft die existenzielle Positionierung des ‚Ich‘ in der Welt, vor dem Bild – im Bewusstsein unserer Mängel und unserer Endlichkeit. B.F.

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