Kim Sooja (*1957 Korea)

In ein dunkles, strenges, zeitloses Gewand gekleidet, das lange Haar lose zusammengebunden, steht eine Frau mitten auf der Leinwand, absolut reglos, den Rücken der Kamera zugewandt. Sie begnügt sich damit, in belebten Strassen von Tokyo, Delhi, New York und Schanghai einfach dazustehen, und entschwindet zeitweise unserem Blick, wenn sie vom bunten Fussgängerstrom umspült wird.

Kim Sooja spaltet die auf sie zukommenden Menschenmassen: Als needle woman durchdringt sie die Welt, wird zum Gradmesser ihrer Energie. Die Künstlerin kehrt dem Bildbetrachter den Rücken zu. Die auf sie zuströmenden Menschen dagegen können sie von vorne betrachten. Wenn wir die Stelle der weiblichen Figur einnehmen könnten, so würden wir kaum etwas anders sehen, als was wir schon als Bildbetrachter wahrnehmen. Die Identifikation mit der Rückenfigur ist relativ wenig ergiebig; es scheint viel interessanter, den Standpunkt eines Passanten einzunehmen. Schliesslich glauben wir in der für uns „unsichtbaren“ Gestalt den Schlüssel der ganzen Szene zu erkennen. Warum wird sie von den Passanten betrachtet oder ignoriert? Weint oder lächelt sie, spricht oder schweigt sie, sind ihre Augen offen oder geschlossen, ist sie schön oder hässlich? Die Blicke der Passanten lassen keine Rückschlüsse darauf zu. Diese Frau ist kein Individuum (sie kann sich multiplizieren), sondern eine Abstraktion.

Die in neutrales Grau gekleidete Figur der Künstlerin wirkt unkörperlich, silhouettenhaft, wie unser Schatten, wie ein Doppelgänger. Und trotzdem behauptet sie sich stillschweigend, aber auf eindringlich präsente Art und Weise in der Menge. Sie schafft ein feines Gleichgewicht zwischen Anwesenheit und Absenz. Sie ist zugleich sie selbst und der/die „Andere“. Kim Sooja macht durch Bewegungslosigkeit sichtbar. Indem sie in der Mitte steht, ist sie abseitig. Ihre eindringlich-einfache Erscheinung ist eine exemplarische Art der Selbstbehauptung: Sie zeigt, dass es möglich ist, sich hier und jetzt durch einen minimalen Aufwand auf andere Raum- und Zeitdimensionen hin zu öffnen. B.F.

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